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Mienenfeld

Beschreiben Sie Ihren Arbeitsplatz mit einem Wort. Mienenfeld. So fühle ich mich jeden Morgen, wenn ich in die Arbeit gehe. Es kann alles passieren und mit ein paar Explosionen ist immer zu rechnen. Letzte Woche habe ich erzählt, dass die zwei Mädels wegrennen wollten und dabei völlig ausgerastet sind. Einige von euch haben gefragt, wie es danach weiterging und wie ich ihnen begegnet bin. Ich war sehr verunsichert und wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Karen, die Leiterin des Hauses, meinte, dass ich ganz entspannt auf das Verhalten der Mädels eingehen soll. Es könnte sein, dass sie tun, als wäre nichts gewesen. Oder sie könnten kommen und sich ganz groß entschuldigen. Genau eine Woche später war ich wieder in Casa Libertad. Aurelia hat mir am Anfang nicht in die Augen sehen können, aber als ich sie völlig normal begrüßt habe und sie gefragt hab, wie es ihr geht, habe ich ihr angemerkt, dass sie sich schämt bzw. dass es ihr wohl Leid tat, was passiert ist. Im Verlauf des Tages ist sie ganz oft (wie sonst auch) zu mir gekommen, hat mich umarmt und gesagt, dass sie mich mag. Pri hat sich kurz bei mir entschuldigt. Danach war es fast wie vorher. Aber irgendwie doch nicht.

Diese Situationen sind Alltag im Heim und doch habe ich gemerkt, dass es was mit mir gemacht hat, dass gerade die zwei Mädels, die ich am besten kannte, wegrennen wollten. Ich hinterfrage meine Menschenkenntnis und bin den Mädels gegenüber sehr misstrauisch. Jeden Moment könnte eine von ihnen ausrasten, etwas stehlen, ein anderes Mädchen angreifen oder sonst irgendetwas Verbotenes tun. Bei diesen Teenagern muss man 10-mal mehr aufpassen als in einem Raum voller Krabbelkinder. Dementsprechend bin ich immer ein wenig angespannt, da eben aus dem Nichts heraus, ohne große Vorwarnung irgendwas passieren kann. Irgendwas kann ich nicht weiter definieren, da eben alles passieren kann. Ich gebe euch ein paar Beispiele von Vorkommnissen, die mir erzählt wurden oder die ich selbst erlebt habe.

Genau eine Woche nach dem „Ausreißer“ bin ich mit zwei Tías und einem Bus mit Mädels spazieren gegangen, Pri und Aurelia waren dabei als wäre nie etwas passiert. Als wir zurückkamen, hat eine Tía alle Mädels schnell nach oben geschickt, da Cari eine Krise hatte. Vier erwachsene Personen haben versucht, das schreiende und um sich schlagende Mädchen festzuhalten, um ein anderes Mädchen zu schützen. Wir hatten einen Workshop über Mundhygiene während immer wieder Schreie „Lasst mich los!“ zu uns nach oben drangen. Cari ist super stark! Sie macht jeden Morgen ein einstündiges Workout, bei dem ich schon nach 5 Minuten völlig am Ende bin. Die Leiterin des Hauses hatte am nächsten Tag blaue und schwarze Blutergüsse am ganzen Körper. Es sah aus, als wäre sie in eine fette Schlägerei verwickelt gewesen.

Heute war ich den ganzen Tag in Casa Libertad und mir ist gleich aufgefallen, dass Pri und Aurelia nicht da waren. Da die Mädels immer irgendwelche Termine haben oder sonstige Ausflüge machen, habe ich mir nichts weiter gedacht. Kurz bevor ich gegangen bin, habe ich erfahren, dass die beiden gestern weggelaufen sind, und diesmal wirklich. Ihre Stühle standen nicht mehr am Essenstisch und es sind offiziell nur noch 16 Mädels im Haus. Ich war etwas bestürzt, dass mir niemand davon erzählt hat. Als wäre das keine große Sache. Die Polizei weiß Bescheid, mal schauen, ob die zwei wieder auftauchen und ob sie zurück ins Heim kommen. Ich bin auf dem Weg dahin, das einfach als Arbeitsereignis abzutun. Sowas darf mir nicht zu nahe gehen und ich kann nicht immer traurig, besorgt, erschrocken sein. Das ist jetzt Alltag. Die zwei könnten bei Verwandten oder Freunden sein. Sie könnten aber auch in falsche Hände geraten. Das wissen wir nicht. Gott weiß es.

Neulich hat sich ein Mädchen mit einem Plastikmesser den Arm aufgeritzt. Das geht mir jedes Mal sehr nahe und ich kann mir das nicht anschauen, ohne diesen Schmerz zu spüren, den die Mädchen in sich tragen. Die Sozialarbeiterin Lisbeth hat mir ausführlich erklärt, wie sie damit umgeht. Das war sehr hilfreich. Während die Mädchen sich ritzen, soll man ihnen keine Aufmerksamkeit schenken, da das genau das ist, was sie erreichen wollen. Das Mädchen hat dann heulend ihre Schwester gesucht, um ihr den Arm zu zeigen und ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Das dürfen die Mädchen nicht. Sie sollen die Wunde abtupfen und bedecken, aber keine Show daraus machen. Als sie gemerkt hat, dass sie keine Aufmerksamkeit bekommt, hat sie sich neben den Fernseher gestellt und angefangen mit der Faust gegen das Fenster zu schlagen, aufzuheulen und böse Blicke in den Raum zu werfen. Das Heim ist ein traumatisierender Ort für alle Bewohnerinnen, wenn diese in ihrem „ganz normalen“ Alltag immer wieder solche Acts miterleben. Nach einer Weile hat Lisbeth das Mädchen am Fenster gefragt, ob sie reden möchte. Sie hat eingewilligt und noch einmal laut aufgeschrien, auf dem Weg in das Büro.

Heute Abend bin ich mit ein paar Freunden was Essen gegangen. Ich wollte mal abschalten und nicht über die Arbeit reden. Allerdings kam die redselige Psychologin von Casa Libertad mit zum Essen und nach kurzer Zeit waren wir beim Thema. Naty ist einfach nur ein wunderbarer Mensch und sie wird weit und breit bewundert. Wie es irgendein Mensch aushält, Vollzeit in Casa Libertad zu arbeiten ist mir ein Rätsel. Ich glaube, das geht nur mit Gottes Hilfe. Sie hat erzählt, dass vor nicht einmal zwei Jahren ein 12-jähriges Mädchen gestorben ist. Dieses Mädchen hatte eine gespaltene Persönlichkeit. Das ist ein riesiges psychologisches Thema. Bitte recherchiert dazu auf You Tube: Multiple Persönlichkeitsstörung. Sehr interessant und sehr schrecklich, was dahintersteckt. Ganz viel Trauma, ganz viel Gewalt, ganz viel Angst, Vergewaltigung, Terror. Im Prinzip sind das zerstückelte (Kinder-) Seelen die Sachen erlebt haben, die wir uns gar nicht vorstellen können und wollen.

Dieses Mädchen hatte eine Persönlichkeit, die sich wie ein…Monster verhalten hat. Oder wie ein Affe. Wenn diese Persönlichkeit vortritt (das versteht ihr, wenn ihr ein bisschen Recherche betrieben habt), ist das Mädchen nicht mehr sie selbst, sondern eben diese affenähnliche Person. Naty hat uns ein wenig vorgemacht, wie sie sich dann verhalten hat. Das Mädchen hatte dann eine tiefe Stimme, hat sich die Kleider vom Leib gerissen und ist durch Fenster und Stacheldrähte gesprungen. Bei einer Flucht ist sie in einen Fluss gesprungen und ertrunken.

Noch eine kleine Situation von dieser Woche, die nicht so „spektakulär“ war, mir aber persönlich nahe gegangen ist. Ich war diese Woche das erste Mal bei einem Telefonat dabei. Fast alle Mädels haben regelmäßige Telefonate mit Angehörigen, die von uns überwacht und dokumentiert werden müssen. Ich habe bei einem Telefonat von Chrissi, einem Mädchen mit einer leichten geistigen Behinderung, zugehört. Sie hat mit einer Verantwortlichen vom costa-ricanischen Jugendamt telefoniert, die regelmäßig abcheckt, ob alles gut läuft. Chrissi hat sich so oft nach ihrem Vater und ihren Geschwistern erkundigt. Sie hat voller Vorfreude über ihren Geburtstag geredet und sich gewünscht, dass alle ihre Familienmitglieder ihr etwas schenken. Sie hat gefragt, wann sie endlich ihren Vater sehen darf. Lisbeth hat mir später erzählt, dass es gar keine gute Idee wäre, einen Besuch mit dem Vater zu vereinbaren. Da ist mir so deutlich geworden, dass das, wonach sich die Mädchen am meisten sehnen, die größte Gefahrenquelle und der größte Schmerzfaktor in ihrem Leben ist: ihre Familie.

Lisbeth hat erzählt, dass teilweise Kontakt mit Familienmitgliedern gewährt wird, damit die Mädchen selbst verstehen, dass die Familie nicht gut für sie ist. Ein Mädchen wollte unbedingt zurück zu ihrer Mutter. Bei den Besuchen und Telefonaten hat sie aber gemerkt, dass die Mutter sich überhaupt nicht für sie interessiert hat und völlig teilnahmslos war. Was macht das nur mit so einem jungen Mädchen??


In Costa Rica (und in den USA) gehört zum Gruß ein „Wie geht’s?“ dazu, einfach so als Floskel. „Hola, cómo estás?“. Ich bin immer versucht, die Wahrheit zu sagen, anstatt die korrekte Antwort „Alles gut, und bei dir so?“ runterzufloskeln. Ich bin müde, erschöpft, ausgelaugt. Ich kann nicht mehr schlafen und habe keine Energie für die Arbeit. Ich weiß nicht, ob ich das noch 4 Monate durchhalte. Ich fühle mich orientierunglos, unfähig und unsicher. Das wäre aktuell meine Antwort auf „Hola, cómo estás?“. Aber wie sich das gehört, lächle ich meistens und gebe die Standartantwort. Manchmal erzähle ich, dass ich müde bin und ich habe schon eine kilometerlange Liste mit Tipps für besseren Schlaf bekommen. Ich bin gerade bei Tipp Nr. 3897 und hoffe einfach, dass ich mal eine Nacht mehr als 5 Stunden Schlaf bekomme.

Ich bitte euch alle um Gebet in dieser herausfordernden Zeit. Mein Hauptanliegen ist guter Schlaf, dann sieht die Welt schonmal anders aus. Aber auch sonst könnt ihr gerne für mein Praktikum, die Mädels und die Mitarbeiter/innen beten. Wir brauchen alle Gottes Hilfe.

Danke für eure Nachrichten und für eure Gebete!



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