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Casa Libertad

Ich war ein wenig aufgeregt, bevor ich das erste Mal ein paar Bewohnerinnen von Casa Libertad kennenlernen sollte. Einen Tag zuvor war ich bei der wöchentlich stattfindenden Besprechung des Fachpersonals vom Heim. Es ging um Themen wie: zu knappe Kleidung, Ausflüge an den Strand, das geplante Thanksgivingfest, Morddrohungen und Workshops über weibliche Hygiene. Das war schonmal ein guter erster Eindruck.

Man benötigt drei Schlüssel, um in den Wohnraum des Heims zu gelangen. Die Türen zwischen innen und außen dienen zum einen dem Schutz der Mädchen, zum anderen sind es Vorsichtsmaßnahmen, die dafür sorgen, dass diese bleiben, wo sie sein sollen. Im „Haus Freiheit“ wohnen achtzehn weibliche Jugendliche im Alter von zwölf bis siebzehn. Alle waren Opfer von Menschenhandel und fast alle werden vom costa-ricanischen Jugendamt eingeliefert. Meistens werden die Mädchen von engen Familienmitgliedern gehandelt und missbraucht. Bezahlte Vergewaltigung. Aus der pervertierten Nachfrage nach Sex mit (kleinen) Mädchen entstehen die größten vorstellbaren Albträume: Traumata und tiefe seelische Narben, die oft ein Leben lang bleiben.

An diesem Nachmittag findet einer der zahlreichen Programmpunkte statt, die den gut strukturierten Stundenplan füllen: Musikstunde. Bevor wir mit dem kleinen Bus losfahren, stelle ich mich kurz den Mädels im Eingangsbereich vor und werde von einigen ganz freudig begrüßt und Willkommen geheißen. Mein erster (und zweiter und dritter) Eindruck ist positiv: freundliche, fröhliche Mädels, die freundschaftlich miteinander umgehen und scheinen, als hätten sie eine gute Erziehung genossen. Keine von ihnen wirkt depressiv, verstört oder traumatisiert. Oh, wie die ersten Eindrücke täuschen können…

Da wird mir wieder klar, wie viele Welten zwischen einem ersten Eindruck und der realen Lebenssituation eines Menschen liegen. Die Person mit dem lautesten Lachen, dem größten Freundeskreis und dem begehrtesten Job kann gleichzeitig depressiv und suizidgefährdet sein. Unsere Welt ist voll davon.

Mir wird gleich ein Platz im Bus angeboten und ich unterhalte mich mit meiner jungen, temperamentvollen Sitznachbarin, dir mich mit Fragen löchert. Wir reden über unsere Lieblingssänger, Deutschland und unsere Hobbys. Das Mädchen hinter mir steckt neugierig ihren Kopf nach vorne und lächelt mich mit einem Engelsblick an. „Ich bin Aurelia und ich bin 13 Jahre alt.“ Ich verspreche ihr, dass wir auf dem Rückweg nebeneinandersitzen. Nach einer halben Stunde Fahrt durch den Regen kommen wir bei der Musikschule an. Es ist bereits dunkel. Der Fahrer und die Betreuerin warten draußen, ich stelle mich mit den acht Mädels in einen Kreis. Die Musikstunde erinnert mich sehr an meinen Studiumsschwerpunkt Musik und Bewegung! Wir machen verschiedene Rhythmusübungen, sprechen, klatschen und singen dazu und die Mädels bekommen Musiktheoriebasics vermittelt. Die meisten Teilnehmerinnen sind motiviert und haben Spaß dabei. Aurelia, groß gewachsen, dunkler Hautton und wellige Haare, mit einem sehr weiblichen Körperbau, setzt sich nah an meine Seite, schlingt ihre Arme um mich, und möchte nicht mitmachen.

Auf dem Rückweg erzählt sie mir ein wenig von ihrer Geschichte. Eigentlich sollen die Mädels nicht einfach von der Vergangenheit reden, da sie die traumatischen Ereignisse jedes Mal gedanklich neu durchleben. Diese Gespräche sollten im Büro der Psychologin stattfinden. Aber davon habe ich noch keine Ahnung, es ist ja mein erster Nachmittag mit Casa Libertad. Aurelia erzählt von Gewalt in ihrer Familie, von Vergewaltigung und Vernachlässigung. Sie fühlt sich nicht wohl im Heim. Sie redet von Drohungen und deutet auf das Mädchen auf dem Sitz vor uns. Ah ja. Die Morddrohungen. Das hätte ich keinem der Mädels zugetraut. Ich habe noch keine Ahnung, wie „man“ angemessen auf solche Geschichten reagiert und ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Aurelia lernt gerade schreiben und lesen. Entweder sie war nie in der Schule oder nur sehr unregelmäßig. Das werde ich alles noch erfahren, wenn ich mit der Sozialarbeiterin des Hauses die einzelnen Fälle durcharbeite. Diese war jetzt zehn Tage im Urlaub und ich hatte noch kaum die Gelegenheit, sie mit Fragen zu löchern.

Die nächsten Tage bin ich immer wieder im Heim. Ich helfe bei den Hausaufgaben, besonders den Sprachen. Juhu, 6 Jahre Französischunterricht haben sich ausgezahlt und ich weiß noch genug, um Neffen und Urgroßeltern auseinanderzuhalten. Ich übe mit den Mädels Cello und Klavier und Blockflöte und Gitarre und gehe für einen Spaziergang mit in den Park. Manche Mädels fallen mir um den Hals, wenn ich zur Tür hereinkomme, mit anderen habe ich noch nie geredet. Für die achtzehn Namen werde ich wohl noch eine Weile brauchen.

Das Haus hat zwei Stockwerke. Der Hauptwohnbereich liegt im Keller. Das ist wohl Absicht, damit die Mädchen nicht nach draußen schauen können. In dem großen Wohnzimmer steht ein langer Tisch mit 18 Stühlen. Jeder Stuhl ist mit einem Namen beschriftet. Hier hat (fast) alles seine Ordnung. Außerdem gibt es einen Fernseher, der von vielen verschiedenen Sofas umstellt ist. Um den Wohnraum herum sind die Zimmer der Mädels, die sie sich meistens zu zweit oder zu dritt teilen. Außerdem gibt es Büros, einen Computerraum, einen Waschraum, einen Arzneiraum, mehrere Vorratskammern und einen Stauraum für Spiel- und Bastelsachen. Im oberen Stockwerk sind die Büros der Sozialarbeiterin und der Psychologin, der Mitarbeiterinnenraum, die Garage und ein weiteres Wohnzimmer mit Instrumenten und einem Fernseher.

Vor einer Woche habe ich dann das erste Mal erlebt, was bei der Arbeit mit dieser Menschengruppe fast mit dazugehört. Wir sind mit dem kleinen Bus voller Mädels zu Crossfit gefahren. Der Weg dorthin ist schon abenteuerlich: es geht super steil mal hoch, mal runter und ein wenig durchs Grüne; raus aus der Stadt. Neben mir sitzen Aurelia und Pri. Pri ist ein kleines, schmales Mädchen und als sie mir am Anfang erzählte, dass sie schon 15 Jahre alt ist, habe ich das kaum glauben können. Sie ist meistens gut gelaunt, voller Energie und auch sie hat so ein unschuldiges Lächeln, dass man nicht im Traum daran denken würde, dass das alles nur oberflächliche Fassade ist. An einem Abend hat sie mir ihren blutüberströmten Unterarm hingehalten. „Ich habe das erste Mal seit Monaten wieder geritzt. Ich vermisse meine Mama.“ Ihre Mama darf sie nicht sehen. Aus einem guten Grund. Puh. Erst später habe ich gelernt, dass ich auf das selbstverletzende Verhalten nicht weiter eingehen soll. Viele Menschen mit Trauma und psychischen Problemen machen das, um Aufmerksamkeit zu bekommen (auch wenn es unbewusst ist). Wenn wir Mitleid zeigen oder besonders auf den Hintergrund eingehen, kann das das Ritzen verstärken. Es ist eine Regel, dass die Mädchen ihre Arme bedecken sollen und untereinander keinen großen Hehl daraus machen, dass sie sich geritzt haben. Es war und ist echt krass, mit sowas konfrontiert zu werden. Superwichtig beim Umgang mit den Mädchen ist, dass man sich gut mit dem Thema Trauma auskennt und entsprechend professionell handelt. Der Intuition nach würde ich einfach alle in den Arm nehmen, ihnen zuhören und versuchen sie zu trösten. Das ist alles eher falsch.

Anyways, eigentlich wollte ich ja meinen ersten Schockmoment vom letzten Montag erzählen. Ich sitze also neben den beiden Mädels, die ich bisher am besten kenne. Die zwei freuen sich immer besonders, wenn ich ins Haus komme und ich habe echt einen guten Draht zu ihnen. Auf der Fahrt zeige ich ihnen einen Bodypercussion-Rhythmus, den sie eifrig nachmachen. Als wir ankommen, ist die Trainerin noch nicht da und Pri schlägt vor, dass wir ja kurz spazieren gehen könnten. Damit meint sie mich und Aurelia. Ich habe gleich den Eindruck, dass das keine gute Idee ist, und ich war mir ziemlich sicher, dass die Tía (das heißt übersetzt Tante, und so werden alle Betreuerinnen/Erzieherinnen genannt) das auf keinen Fall erlauben würde. Aber sie nickt und mit einem flauen Gefühl im Magen gehe ich mit den beiden los. Die anderen Mädchen und Betreuer/innen warten im Bus. Im Inneren WUSSTE ich, dass Pri und Aurelia versuchen würden, wegzulaufen, aber ich habe den Gedanken irgendwie beiseitegeschoben, oder ich wollte es unterbewusst darauf ankommen lassen. Die zwei laufen vergnügt neben mir her, ich bemerke keine vielsagenden Blicke oder auffälliges Verhalten. Pri fragt mich, ob ich mein Handy dabeihabe. Eine Notlüge wäre sicher angebracht gewesen. Ich verneine und werde langsam echt nervös. „Da vorne drehen wir um, sicher ist die Trainerin schon da.“ Nach zwei weiteren Schritten gibt Pri das Kommando und die beiden sprinten davon. Mein Adrenalinspiegel schießt Richtung Universum und ich renne hinterher. Regel Nummer 1 in Notfällen: Ruhe bewahren. Die Regel habe ich gleich zehnmal gebrochen. Ruhe und einen klaren Kopf habe ich nach 2 Sekunden nicht mehr. Ich habe kein Handy, es sind keine Menschen in der Nähe und wir waren schon zu weit weg, als dass mich jemand gehört hätte. Die Mädchen sind echt schnell und ich gebe alles, um sie einzuholen. Dann halte ich inne und rufe ihnen hinterher, dass sie stehen bleiben sollen. Als ob. Also packe ich sie jeweils am Handgelenk und versuche sie irgendwie festzuhalten. Dann eskaliert die Situation und Pri verwandelt sich binnen zwei Sekunden in ein Monster. Sie ist völlig außer sich und fängt an, mich aufs Übelste zu beschimpfen. Zum Glück verstehe ich nur einen Bruchteil davon. Aurelia lässt sich von Pri anstecken und gibt mir deutlich zu verstehen, dass sie nicht zurück möchte. Ein Taxi kommt vorbei und ich versuche die Mädchen dazu zu bringen, sich hinein zu setzen. Die Idee scheitert und das Taxi fährt weiter. Danke für nichts. Dann kommt noch ein Auto vorbei und mit panischen Handbewegungen versuche ich dem Fahrer deutlich zu machen, dass ich Hilfe brauche. Er hält an und beobachtet das Szenario. Pri schreit den Fahrer an und beschuldigt mich, dass ich sie gegen ihren Willen festhalte. Das stimmt sogar, es könnte nur ganz falsch rüberkommen. Ich flehe den Fahrer an, die Polizei zu rufen und versuche ihm die Situation zu erklären. Er fragt, wo die Erzieher sind und aus welchem Heim die beiden sind. Über das Heim verliere ich kein Wort, das soll so geheim wie möglich bleiben. Der Fahrer glaubt mir wohl, aber schert sich nicht groß um die Situation. Pri und Aurelia schreien mich weiter an, aber entschließen sich endlich dazu, zurückzulaufen. Dem Himmel sei Dank.

Pri nimmt eine abgebrochene Glasflasche in die Hand und wirft sie voller Aggression auf den Boden. Endlich sind wir in Sichtweite des Buses und ich winke die Erzieherin raus. Ich bin emotional völlig fertig und setze mich zurück in den Bus. Die anderen Mädels sind voll lieb, geben mir Wasser und beruhigen mich. Ich erzähle Emma (meiner Mitpraktikantin) kurz was passiert ist, während unser Fahrer und die Tía sich um die Ausreißer kümmern, die schon wieder wegspazieren. Erst später erfahre ich, dass Pri und Aurelia vor ein paar Wochen schonmal weggelaufen sind. Es gibt sogar ein Video, in dem drei Polizeiwagen angerückt sind, um sich der Beiden anzunehmen. Ich hätte sie auch laufen lassen können, aber dazu gibt es im Ministry verschiedene Meinungen. Manche Mädchen aus dem Heim sind ausgerissen und wurden nur mit Drogen zugeballert und vergewaltigt. Emma und ich machen mit den restlichen Mädels ein fettes Workout während die Polizei ein ausführliches Gespräch mit Pri und Aurelia führt.

Nach Crossfit sollen Emma und ich noch warten, bis der Bus weg ist, da die Mädchen noch sehr in Rage sind. Wir fahren also getrennt zurück und ich möchte einfach nur nach Hause, um mich von dem Schreck zu erholen. Die Missionare, die bei uns zuhause sind, beruhigen mich und meinen, dass ich kein schlechtes Gewissen haben soll. Susie erzählt, dass sie einmal ein Mädchen an den Beinen festgehalten hat, das über einen spitzen Zaun klettern wollte. Eli, die Leiterin der Organisation hat auch schon mal eine Ausreißerin festhalten müssen. So hat jeder seine Erlebnisse. So jetzt auch ich. Das gehört einfach dazu.




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