Vom Alter her könnte sie meine Mutter sein. Die freundliche Dame mit der ich in Casa Esperanza (Daycenter im Rotlichtviertel) an einem Tisch sitze, erzählt mir ihre Lebensgeschichte.
Heute habe ich Susie für ihre Arbeit bei „Free the girls“ begleitet. Das ist eine Organisation, die in vier Ländern arbeitet und Frauen, die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution waren, dabei unterstützt, aus diesem toxischen Umfeld auszusteigen. Das Konzept ist ziemlich cool: die Frauen verkaufen gespendete BHs von Unterwäschemarken aus den USA. Das ist eine Arbeit, bei der die Frauen nicht mit Männern in Kontakt kommen und somit auf der sicheren Seite sind. Den Profit dürfen sie behalten. Somit haben sie ein kleines Einkommen und müssen sich nicht prostituieren. Außerdem werden sie dazu ermutigt, sich etwas anzusparen, um in Zukunftsprojekte zu investieren. Im Milieu gibt es keine Sparmentalität. Jeden Tag versucht man irgendwie zu überleben, man denkt nicht viel an die Zukunft. Die Zukunft wird nämlich sicher nicht besser sein, als die Frauen es kennen. Aber wenn wir die Frauen, die aus der Prostitution ausgestiegen sind, zu Wort kommen lassen, haben viele von ihnen Träume und Vorstellungen von der Zukunft. Eine Frau möchte einen Imbiss eröffnen und als Köchin arbeiten. Eine andere möchte gerne mit Holz arbeiten und sich die benötigten Maschinen und Materialien dafür kaufen.
Heute darf ich die Daten von Gretel aufnehmen. Eine kleine, rundliche Frau mit kurzen, grauen Haaren und lieben Augen. Wie bei fast allen Frauen, beginnt ihre Leidensgeschichte in der Kindheit. Die Mutter hat die Familie verlassen, der Vater ist gestorben. Dann geht es von Heim zu Heim. In Costa Rica gibt es ein Institut, das sich um Fälle von Kindeswohlgefährdung kümmert, wohl mit ähnlichen Aufgaben wie das Jugendamt in Deutschland. Oft alarmieren Nachbarn oder Familienmitglieder PANI (Patronato Nacional de la Infancia) wenn sie feststellen, dass Kinder verwahrlosen oder irgendwelchen Gefahren ausgesetzt sind. PANI sucht dann ein entsprechendes Heim. Diese Heime sind meistens eher schlechte als rechte Orte um aufzuwachsen und viele Kinder möchten einfach nur weg. Irgendwann rennt Gretel davon und landet auf der Straße im Milieu. „Hast du Drogen konsumiert?“. „Alles. Alles, was es in Costa Rica gibt“, sagt sie und lacht kurz auf. Und Alkohol natürlich auch. Eine Frage in unserem Dokument, die wir ausnahmslos mit Ja beantworten, betrifft Missbrauch in allen Formen. Sexueller, emotionaler und körperlicher Missbrauch sind für die meisten der Startpunkt eines Lebens auf der Straße. Es gibt einfach keine Frauen, die in einer lieben, behüteten Familie aufwachsen, gute Schulbildung erhalten und eines Tages beschließen, auf die Straße zu gehen, um ihren Traumberuf in der Prostitution zu verwirklichen. Jede Frau (und jeder Mann) hat ihre Geschichte und mehr als traurige Gründe, warum sie ihren Körper und ihre Würde verkaufen. Gretel hat die Grundschule beendet, weitere Bildung hat sie nicht erhalten. Was bleibt einem da übrig, als sich auf der Straße durchzuschlagen und sich mit Alkohol und Drogen so weit zu betäuben, dass man von der grausamen Realität nicht mehr ganz so viel mitbekommt? Als ich Gretel nach ihren Fähigkeiten und Talenten frage, meint sie, dass sie mal die „Leiterin“ eines Straßenabschnitts war. Soweit ich das verstanden habe, hat sie selbst andere Prostituierte unter ihren Fittichen gehabt und gleichzeitig ausgebeutet. Außerdem war sie ein paar Monate im Gefängnis, mit gerade mal 18 Jahren. Ich schätze, dabei ging es um Drogenhandel oder Diebstahl.
„Ich habe alle möglichen Rehabilitationsprogramme durchlaufen. Nichts davon hat mir geholfen. Es ist nicht einfach.“ Immer wieder wischt sie sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Ich nicke verständnisvoll. Puh. Fast 40 Jahre in der Prostitution. Wie kann ein Mensch das aushalten und überleben? Ich kann mir nicht einen einzigen Tag davon vorstellen. Eigentlich wollten wir nur die Dokumente für Free the girls ausfüllen, aber Gretel erzählt mir ihre ganze Lebensgeschichte. Ich kann kaum glauben, dass diese liebenswürdige Dame so viel durchgemacht hat. Ein Ex-Partner hat sie eingesperrt, geschlagen und ihr Geld abgenommen, das sie in der Prostitution verdient hat. Ein typischer Fall von Zwangsprostitution. Damit ist sie qualifiziert für unser Ausstiegsprogramm „Free the girls“.
Und jetzt? „Mir hat nichts geholfen. Kein Rehabilitationsprogramm. Aber vor 4 Jahren habe ich Gott kennengelernt und er hat mein Leben verändert.“ Ich habe eine Gänsehaut und am Liebsten würde ich mit ihr weinen. Die Geschichte dieser Frau ist so ein gewaltiges Zeugnis. Der Teufel kommt, um zu zerstören und zu töten. Und Jesus kommt, um uns ein neues Leben zu schenken. Seit zwei Jahren ist Gretel von Drogen frei. Auch wenn sie immer noch zu kämpfen hat, ist sie ein komplett anderer Mensch und redet von Gottes Liebe. So steht es in der Bibel.
Gehört also jemand zu Christus, dann ist er ein neuer Mensch. Was vorher war, ist vergangen, etwas völlig Neues hat begonnen. All dies verdanken wir Gott, der uns durch Christus mit sich selbst versöhnt hat. Er hat uns beauftragt, diese Botschaft überall zu verkünden. (2.Korinther 5:17-18)
Genau das macht Gretel heute. Sie gibt ihr Lebenszeugnis und erzählt davon, wie Gott ihr Heilung geschenkt hat. Ich glaube, das gibt es sogar auf You Tube.
Ihr Lebenstraum: anderen Frauen dabei helfen, aus der Prostitution auszusteigen und eine Arbeit zu finden. Es berührt mich immer wieder zu hören, dass die Frauen das so auf dem Herzen haben, anderen zu helfen, so wie auch ihnen geholfen wurde.
Als ich Gretel nach anderen Wünschen frage, meint sie nur: „Geld? Man braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Als ich jung war, hatte ich alles: Geld, die Männer… Heute habe ich Gott und ich bin glücklich.“ Das ist für mich das Allerschönste, wenn mir (ehemalige) Prostituierte von dem erzählen, was Gott in ihrem Leben getan hat. Das ist mehr als eine Sonntagspredigt. Am liebsten würde ich die Frauen in alle Kirchen einladen und sie einfach erzählen lassen, was sie erlebt haben.
Viele Kirchen wollen mit dem Thema nichts zu tun haben. Zu krass für die Gottesdienstbesucher. Viele trauen sich nicht, über den Teufel oder die Hölle zu reden. Können wir zumindest über Wunder reden? Die sind nämlich real. Eines davon sitzt mir gegenüber und lächelt.
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