Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Immer und immer wieder lösche ich die letzten Zeilen, weil meine Gedanken sich überschlagen. In nur einer Woche ist so viel passiert. Mein Herz ist übervoll und ich müsste wohl einfach zwei Tage in einen leeren Raum gehen und absolut nichts tun, um all das zu verarbeiten, was ich die letzte Woche erlebt habe. Wo fang ich an?
Face of Justice ist ein sehr großes Ministry mit so vielen Menschen und so vielen verschiedenen Projekten, dass ich fast jeden Tag der Woche in einem anderen Bereich tätig sein kann. Ich war im Rotlichtviertel beim Englischunterricht und beim Bibelgespräch, Nachts auf der Straße bei Prostituierten, im Schutzhaus für minderjährige Opfer von Menschenhandel, bei der Essensausgabe für Bedürftige. Zwischendrin habe ich versucht, mein Praktikum zu organisieren und mit den vielen Projektleitern zu sprechen. Ach ja und dann gibt es immer wieder Meetings, die auch mal drei Stunden dauern können. Ich werde euch nach und nach die verschiedenen Bereiche des Ministrys vorstellen.
Casa Esperanza
Ich fang mal mit Casa Esperanza (Haus der Hoffnung) an. Das Daycenter befindet sich mitten im Rotlichtviertel San Josés. Ich war schon zweimal beim Englischunterricht mit Susie und Emma. Susie ist Lehrerin für Spanisch und für Englisch als Fremdsprache und sie arbeitet seit zwei Jahren als Missionarin mit Face of Justice. Auf der Fahrt in die Stadtmitte war ich ziemlich überrascht. Meine Vorstellung von Costa Rica war so verzerrt, dass es mich auf einmal überrascht hat, so viel Armut hier zu sehen. Meine oberflächliche Internetrecherche und Gespräche mit Leuten, die nur als Touris hierherkamen, zeichneten folgendes Bild: Costa Rica ist einfach nur das grüne Urlaubsparadies mit Meer und Strand, das wohlhabendste Land Lateinamerikas, das ziemlich friedlich und mit einer relativ (seeeehr relativ) stabilen, demokratischen Regierung einiges richtig macht. Das mag teilweise stimmen und in vielen Gebieten sieht es auch so aus, als wäre man hier im Schlaraffenland. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.
Costa Rica hat genau die gleichen Probleme wie alle anderen Länder Lateinamerikas. Hoher Drogen- und Alkoholkonsum, Obdachlosigkeit, Korruption, Gewalt in Familien, Armut, Kriminalität… und Menschenhandel. All das kann man in einem einzigen Bild festhalten. In den schmutzigen Straßen des Rotlichtviertels und rundherum sind viele Geschäfte, wo Essen, Elektronik und Kleidung verkauft wird. Und Menschen, die am Gehweg oder auf der Straße ein paar Kleinigkeiten verkaufen. Ob sie davon überleben können? Wir sollen geschlossene Schuhe anziehen, da neben all dem Schmutz auch Nadeln von Drogensüchtigen herumliegen. Auch Eltern mit ihren kleinen Kindern sind in diesem zwielichtigen Stadtteil unterwegs. Emma kam gerade von einem Vormittagsevent zurück und hat erzählt, dass eine junge Frau mitten auf der Straße die Hose heruntergelassen hat, um ihr Geschäft zu verrichten. Abends ist es sehr gefährlich hier, darum wird Casa Esperanza am frühen Nachmittag geschlossen. Am Straßenrand liegen Menschen, die verkrüppelte Beine haben oder das Leben irgendwie aufgegeben haben.
Da ist Willi, der erst bei genauerem Hinsehen als Mensch auszumachen ist. Er ist so verwahrlost und ungepflegt, schon seit Jahrzehnten ein Kind der Straße. Seine Beine sind mit Müllsäcken umwickelt, neben ihm befinden sich ein paar Essensreste. Er zieht an einer Zigarette und lugt unter der großen Kapuze hervor, als wir ihn ansprechen, um ihm einen Kaffee in die schmutzige Hand zu drücken. Genau dieser Willi könnte mit seinen Enkeln Ausflüge unternehmen, in einem schönen Apartment am Meer wohnen und mit seiner Frau Kaffee trinken gehen. Wenn sein Leben ein ganzes Stück anders verlaufen wäre…
Casa Esperanza befindet sich in all dem Trubel gegenüber einer Absteige, wo einige der Frauen wohnen und wohl auch Kunden empfangen. Hinter einer Gittertür befindet sich unser Safe Space: Casa Esperanza. Das ist ein großer, hoher, ziemlich karger Raum, der auf jeden Fall um einiges wohnlicher gestaltet werden könnte. Stühle, Tische, Regale, Sofas, eine Küche und eine Toilette. Hier dürfen die Frauen (und Transfrauen) einfach sein und sich ausruhen, reden oder nur dasitzen und eine Auszeit von dem Wirrwarr der Straße nehmen. Hier finden Workshops über den Umgang mit Computern und Nähmaschinen statt, es gibt psychologische Angebote und Essen. Zum Englischunterricht kommen meistens drei bis fünf Frauen. Die Frauen, die zu uns kommen, leben in ärmlichen Verhältnissen. Manche auf der Straße, manche haben ein Zimmer in einem Hotel, das sie wöchentlich oder monatlich bezahlen müssen. Manchmal reicht das Geld für die Miete nicht.
Manche der Frauen haben Kleider und viel Schmuck an, manche sind stark geschminkt, manche sind gepflegt, manche haben Löcher in der Kleidung, manche sind übergewichtig, manche sind eher mager, manche hinken oder haben einen krummen Rücken, viele von ihnen haben Narben am Körper. Alle haben Gewalt und Ausbeutung erlebt und irgendeine Art von Trauma, das sie mit sich herumtragen. Die Prostituierten, die zu uns kommen, sind nicht die Frauen, die bei amerikanischen Footballspielern an der Poolbar sitzen. Ich glaube, dass sich eher weniger Touristen aus wohlhabenden Ländern in dieses Viertel begeben, um bezahlbaren Sex zu kaufen.
Ich habe mich in der ersten Englischstunde neben Jessica gesetzt (ich gebe allen Personen, außer meinen Kollegen, andere Namen), was sehr amüsant war. Jessica ist schätzungsweise Ende vierzig und hat viel Temperament. Sie hat eifrig ihre Englischkenntnisse angewandt, mir schelmisch zugezwinkert und Witze gerissen. Wir haben viel zusammen über ihre kreativen Ideen gelacht und ich habe versucht, die richtigen englischen Worte dafür zu finden. Susie hat eine Gabe, den Unterricht abwechslungsreich und kurzweilig zu gestalten und auf jede ihrer Schülerinnen einzugehen. Am Ende des Unterrichts gibt es immer eine kleine Mahlzeit, die Jessica zubereitet hat. Sie träumt davon, Köchin zu werden und das Ministry unterstützt sie dabei, Erfahrungen zu sammeln und ein wenig Geld zu verdienen.
Jeden Donnerstag findet eine Bibelstunde statt, das letzte Mal waren fünfzehn Frauen da. Wir sitzen in einem großen Stuhlkreis und Sylvia (eine freiwillige Tica) hält eine Andacht über einen Bibeltext. Sie spricht von Gottes bedingungsloser Liebe und der Vergebung, die wir empfangen können, wenn wir umkehren und Jesus in unser Leben einladen. Sie ermutigt die Frauen dazu, ihr Leben zu ändern und schlechte Einflüsse außen vor zu lassen. Der Lärm der Straße begleitet die Andacht und immer wieder kommen neue Leute dazu und wir öffnen ihnen die Türe, die aus Sicherheitsgründen immer zugesperrt wird. Manche Frauen wirken etwas abwesend oder benebelt, manche dösen vor sich hin. Am Ende gibt es ein offenes Gespräch und sehr schnell fließen Tränen. Die Frauen sind so offen und ehrlich. An diesem Tag liegt eine Schwere in der Luft. Die Frauen haben zu kämpfen: kranke Angehörige, Gewalt, Beziehungsprobleme, Geldknappheit, Hoffnungslosigkeit. Wir beten für die Frauen, hören uns ihre Probleme an, umarmen sie und ermutigen sie. Und es gibt wunderbare Zeugnisse von Heilung und Wiederherstellung, auch wenn es bis dahin immer ein großer Kampf war.
Ich möchte euch die Geschichte von Julietta erzählen.
Eine hübsche dunkelhäutige Frau, die mir nicht älter als Ende 20 erschien, hat mich auf ziemlich gutem Englisch angesprochen, was mich verwundert hat. Die meisten Frauen in Casa Esperanza haben, wenn überhaupt, wenig Bildung genossen. Julietta ist in einem schlechten Umfeld aufgewachsen. Drogen, Alkohol, Gewalt und Prostitution… das Übliche. Der Kampf um das Herz von Menschen beginnt oft schon sehr früh. Sie war mit einem Mann aus Kanada verheiratet und hat einen Sohn von ihm bekommen. Der Mann hat sie aber nicht wie eine Ehefrau, sondern wie eine Sexsklavin (wörtlich zitiert) behandelt. Sie wurde misshandelt und hat nicht einmal genug zu essen bekommen. Sie wollte weg von dem Mann, aber dieser hat ihr den Sohn weggenommen und wegen all dem Trauma musste sie für fünf Jahre in eine Klinik. Männer haben sie immer wieder ausgenutzt und betrogen und sie hat angefangen, ihren Körper für Geld zu verkaufen. Die meisten Frauen, die in der Prostitution landen, wurden vorher sexuell missbraucht. Sie wurde schwanger und musste das Kind abtreiben. Julietta hat sich selbst gehasst, sie empfand sich als hässlich, als Versagerin, als völlig wertlos. Eines Tages hat ihr jemand von Gott erzählt und sie hat angefangen in der Bibel zu lesen. Es hat ein paar Jahre gebraucht, aber seit Julietta Jesus kennt, hat sich so viel in ihrem Leben verändert. Sie hat viel von Gottes Liebe und der Hoffnung geredet, die wir nur in ihm haben. Diese Frau hat mir eine ganze Predigt gehalten, das hat mich so ermutigt und mir ist wieder klar geworden, warum für mich Soziale Arbeit nur mit Gott Sinn macht. Julietta liest viel in der Bibel, um die Lügen in ihrem Kopf mit der Wahrheit von Gott zu ersetzen. Ich war erschüttert und überwältigt von diesem lebendigen Zeugnis von Wiederherstellung. Julietta ist raus aus der Prostitution und sie hat eine Vision für ihre Zukunft. Ich habe in ihren Augen gesehen, dass sie Gott kennt und weiß, wer sie in ihm ist. So eine starke Frau, ich habe die größte Achtung vor ihr und allem, was sie erlebt hat!
Ich habe in der kurzen Zeit schon viele Lebensgeschichten gehört, die mich sehr berührt und mitgenommen haben. Viele Menschen sind noch mitten im Kampf, einige haben gerade keine Perspektive und andere können und wollen gar nicht an ein anderes Leben denken. In all dem weiß ich, dass Gott jedes Schicksal kennt und dass er die Menschen nicht vergessen hat.
Ich habe Hoffnung.
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